Diagnostizieren, etikettieren, stigmatisieren
Das ist gar nicht so selten, dass Sozialarbeiter/*innen damit konfrontiert sind, dass die Menschen, mit denen sie arbeiten sollen, in Kliniken, Praxen oder Schulen Labels verpasst bekommen. Und diese Labels können ziemlich unerfreuliche Auswirkungen haben. Denn es macht etwas aus, ob man eine Verhaltensstörung attestiert bekommt oder ein Asperger Syndrom. Wer als lernbehindert eingestuft wird, für den bleibt nur ein Leben am Rande der Gesellschaft – Legastheniker können alles werden. Und auch die anderen Kategorien von Boderline bis zu Wahrnehmungsstörungen haben z. T. gravierende Auswirkungen. Das Seminar erklärt deshalb, wie solche Diagnosen fallen. Es stellt einige Testverfahren vor und erklärt, worauf man achten muss, wenn man für die Rechte seiner Adressat*innen eintreten will.
Dieses Seminar richtet sich an Studierende der Sozialen Arbeit (Modul 4.4).
Im Grundsatz geht es darum zu verstehen, wie Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen ticken. Denn evidenzbasiertes Denken unterscheidet sich doch sehr von dem, was Sozialarbeiter*innen normalerweise wichtig ist und was Studierende der Sozialen Arbeit normalerweise in ihrem Studium lernen. Ein wichtige Basis evidenzbasierter Medizin und evidenzbaierter Psychotherapie ist die Annahme, dass man eine Störung, ein Problem genau und objektiv diagnostizieren muss, um auf dieser Basis in Auseinandersetzung mit quantitativen Forschungsbefunden zu entscheiden, welche Behandlungsmethoden in Frage kommen. Dabei kommen in aller Regel Testverfahren zum Einsatz. Und diese Testverfahren entscheiden manchmal sehr weitgehend darüber, welches Leben die Klient*innen leben können, und welche Lebensläufe schwierig werden oder gar ausgeschlossen sind.
Wie in jedem Metier gibt es allerdings auch in der diagnostischen Arbeit gute Verfahren und schlechte Verfahren. Die Lehrveranstaltung erklärt in einem ersten Teil deshalb, wie man gute von schlechten Verfahren unterscheidet. Der zweite Teil befasst sich mit Störungsbildern, denen Sozialarbeiter*innen häufig begegnen. Dabei geht es nicht allein nur darum, zu verstehen, was die diagnostischen Merkmale der Störungsbilder sind, wie häufig sie sind und welche Behandlungsmethoden eingesetzt werden. Sondern es geht auch darum, welche Fehler in der diagnostischen Arbeit auftreten können und welche Folgen Diagnosen haben können.
Erste Sitzung
In der ersten Sitzung stelle ich mich und das Seminar vor. Wir reden über die Prüfungsformen. und wir starten mit einer Recherche zur Diagnose von Legasthenie.
Tab 13: Diagnose LRS: DSM IV / ICD-10 nach Deimel 2002 | |
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1. Schulleistung ist kleiner als aufgrund von IQ, Alter und Beschulung zu erwarten ist 2. Es liegt eine klinisch relevante Beeinträchtigung bzw. ein Leidensdruck vor 3. Ausschluss: unangemessene Beschulung, periphere Seh- & Hörstörung, | |
DSM IV | ICD 10 |
neurologische und emotionale Erkrankungen nicht als Ausschlusskriterien genannt | neuologische und emotionale Erkrankungen, die ursächlich für Schulleistungsproblematik sind, als Ausschlusskriterien genannt |
Diskrepanz von 2, im begründeten Einzelfall 1 Standardabweichung | Diskrepanz mit Regressionsansatz berechnet |
Tab 14: Praktisches Vorgehen bei der Diagnose von LRS nach Deimel 2002, 125 / IQ-Tabelle nach Schulte-Körne u.a. 2001 | |||
Die Leistungsmessung erfolgt mit standardisierten Verfahren ab Ende Klasse 2 Es sind Schulformübergreifende Normen zu verwenden. Beeinträchtigung und Leidensdruck sollen durch psychologische Untersuchung (Exploration, Testverfahren Emotionaldiagnostik) erhoben werden, das Ausmaß der Beinträchtigung durch Befragung Kind, Eltern, Lehrer). Ausschlusskriterien durch medizinische Untersuchung Diskrepanz: Rechtschreib-Prozentrang < 16, regressionsbasierte IQ-Diskrepanz von 1,5 Standardabweichungen | |||
IQ | Rechtschreib-Prozentrang kleiner als | IQ | Rechtschreib-Prozentrang kleiner als |
70-74 | 1 | 108-109 | 10 |
75-82 | 2 | 100-111 | 11 |
83-87 | 3 | 112 | 12 |
88-92 | 4 | 113-115 | 13 |
93-96 | 5 | 116 | 14 |
97-99 | 6 | 117 | 15 |
100-102 | 7 | > 118 | 16 |
105-107 | 9 |
Zweite Sitzung
Die zweite Sitzung befasst sich mit den Begriffen Stigmatisierung und Etikettierung. Denn es ist ja sinnvoll, die Grundbegriffe des Seminars kennenzulernen.
Hier ein passender Podcast aus dem vorangehenden Semester:
Tabelle 61 Positionen von George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft (zuerst englisch 1934) |
Mead untersucht u.a. Interaktion und Verstehen unter Menschen. Bekannt geworden ist Geist, Identität und Gesellschaft vor allem durch seine Thesen zur Identität und zum Fremdverstehen. Grundgedanke ist die Überlegung, dass Identität entsteht, indem man sich aus der Perspektive anderer wahrnimmt. Diesen Mechanismus nennt Mead „role-taking“, ein Konzept, das später von Piaget und Nachfolgern wieder aufgegriffen wird und in heutigen Zusamenhängen unter dem Begriff theory of mind diskutiert wird. Role-Tanking funktioniert bei Mead nicht nur in Bezug auf konkrete andere. Sondern Menschen können sich selbst auch aus der Perspektive von sozialen Gruppen wahrnehmen oder noch allgemeiner aus der Perspektive des „Verallgemeinerten anderen“. Identität umfasst dabei einerseits die tatsächlich gesprochenen Worte und Emotionen (Mead bezeichnet diesen Teil der Identität als „I“) und andererseits die organsierte Gruppe anderer (Mead prägt hierfür den Begriff „me“). |
Tab 4: Identität & Stigma nach Goffman (1962) |
virtuale soziale Identität als das, was andere von uns erwarten aktuale soziale Identität als das, was wir wirklich sind Stigmatisierung als Diskrepanz zwischen aktualer & virtualer sozialer Identität (bei diskreditierenden Erwartungen anderer) 3 Arten von Stigmata: Abscheulichkeiten des Körpers, individuelle Charakterfehler, phylogenetische Stigmata (Rasse, Nation, Religion) |
Tab 5: Auswirkungen des Stigmas auf die Interaktion nach Goffman (1962) | |
Stimatisierte unsicher, weil sie spüren, dass das Stigma wahrgenommen wird Gefühl nicht zu wissen, was andere denken defensives Sichverkriechen oder feindselige Kontakte | Normale Antizipation der Probleme so tun, als gebe es das Stigma nicht so tun, als sei der Stigmatisierte ein Niemand |
Tab 59: Howard S. Becker (1963) |
Abweichendes Verhalten setzt Regeln voraus, deren Verletzung abweichendes Verhalten konstituiert. Diese Regeln werden durchgesetzt, wenn die Durchsetzer darin einen Vorteil sehen. Die Durchsetzung/ das Aufzwingen von diesen Regeln basiert auf Macht und Stellung. Etikettierung umfasst als Prozesseinen Verstoß gegen eine Regel die (öffentliche) Definition dieses Regelverstoßes als abweichendes Verhaltendie Chancenreduzierung des Etikettierten die Übernahme der Fremddefinition als Folge: eine deviante Karriere |
Dritte Sitzung: Normierung
In der dritten Sitzung geht es zum ersten Mal um die Frage, woran man gute Normierungsuntersuchungen erkennt. Ein bisschen haben wir das ja bereits in der zweiten Sitzung besprochen. Eine wichtige Frage ist nämlich, wie alt der Rest ist. Wenn sich das Merkmal, das mit einem Test untersucht wird, im Laufe der Jahre verändert, dann muss man darüber nachdenken, welche Auswirkungen dies auf die Testergebnisse hat. Wenn man z. B. davon ausgehen muss, dass sich 2025 die Rechtschreibleistungen von Grundschülern gegenüber einem Vergleichszeitraum von Anfang des Jahrhunderts deutlich verschlechtert haben, dann sehen Kinder, die mit einem alten Test untersucht werden, entsprechend schlechter aus, als dies der Fall wäre, wenn man einen neuen Test einsetzt. Natürlich kann man diesen Punkt berücksichtigen, wenn man an einem eher schlechten Testergebnis interessiert ist, sagen wir z. B. wenn ein Legastheniezentrum auf der Suche nach Kundschaft ist. Oder sagen wir besser: Lehrbuchgemäß ist ein solches Vorgehen sicher nicht. Aber derlei passiert nicht unbedingt selten.
Hier zunächst ein passender Podcast zum Thema Normierung:
Normierung
Vierte Sitzung: Objektivität und Standardabweichung
Die Objektivität gilt als wichtigstes Gütekriterium von Testverfahren. Belegt wird sie normalerweise dadurch, das mehrere Testende miteinander verglichen werden. Hierzu müssen die gleichen Getesteten mehrfach von unterschiedlichen Testleiter*innen untersucht werden. Je nachdem, wie hoch die prozentuale Übereinstimmung zwischen den Testleiter*innen ausfällt, kann man sagen, ob ein Test objektiv ist oder nicht.
Dieser Podcast aus dem letzten Semester erklärt das Gütekriterium Objektivität:
Objektivität
Das nächste Gütekriterium ist dann die Reliablität. Hier geht es z. B. darum, ob ein Weihnachten durchgeführtes Testverfahren zu Ostern noch immer zu den gleichen Ergebnissen führt (Test Re-Test Reliabilität). Weil dies mit einem statistischen Kennwert namens Korrelation überprüft wird, beschäftigt sich das Seminar mit Korrelationen. Um zu verstehen, wie Korrelationen funktionieren, muss man zunächst wissen, was eine Standardabweichung ist. Ist eigentlich nicht sehr kompliziert. Aber viele lernen das einfach nicht in ihrem Studium. Und ohne zu wissen, was Standardabweichungen sind, kommt man in der Diagnostik nicht sehr weit.
Standardabweichung
Fünfte Sitzung: Reliabilität
Bei der Berechnung von Korrelationen muss man auf die Standardabweichung zurückgreifen. Vermutlich ist es zunächst einmal verwirrend, dass es unterschiedliche Korrelationskoeffizienten gibt. Es gibt solche, die mit dem Arithmetischen Mittel arbeiten. Und es gibt Korrelationskoeffizienten, die die gemessenen Werte in eine Rangreihe bringen. Bei der Berechnung von der Reliabilität wird normalerweise ein mittelwertsbasierter Korrelationskoeffizient verwendet.
Korrelationskoeffizienten
Wie setzt man nun Korrelationskoeffizienten in der Berechnung der Reliabilität ein?
Ein aussagekräftiger Weg besteht darin, den selben Test mit denselben Probanden in einem einigermaßen kurzen Zeitraum zwei Mal durchzuführen. Das nennt sich dann Test-Retest-Reliabilität. Hintergedanke: Es wäre günstig, wenn Weihnachten und Ostern in etwa das gleiche herauskommt.
Reliabilität und Standardmessfehler
Beim Standardmessfehler geht es darum, die Genauigkeit von Testverfahren einzuschätzen. Grundgedanke ist dabei, dass alle Tests nicht ganz genau sind. Es ist deshalb sinnvoll zwischen dem gemessenem Wert und dem wahren Wert zu unterscheiden. Der Standardmessfehler soll dabei helfen einzuschätzen, wie groß der Bereich ist, in dem sich der wahre Wert vom gemessenem Wert entfernen kann (Vertrauensintervall). Dabei kommen einige statistische Annahmen zum Einsatz – z. B. Annahmen über die Irrtumswahrscheinlichkeit, die man zu akzeptieren gewillt ist (i.d.R. : < 5 %).
Sechste Sitzung: Referate und Literaturrecherche
Dieses Seminar will ja erklären, wie Mediziner*innen und Psycholog*innen Störungsbilder und die einschlägige Forschung zu diesem Thema wahrnehmen. Es macht also wenig Sinn, für Referate Literatur zu verwenden, die die Sicht von Sozialarbeiter*innen in den Vordergrund stellt. Entsprechend sollten Sie sich Ihre Informationen nicht zusammengooglen. Denn Google weiß u.a. , dass Sie soziale Arbeit studierenden und zeigt Ihnen nur den Sozialarbeiter*innenkram. Und auch der Weg in unsere Bib ist hier nicht zielführend, wenn Sie einen Überblick über die medizinische oder psychologische Forschung erstellen wollen. Denn auch hier finden Sie nur eine besondere Auswahl an Literatur.
Sie sollten Fachdatenbanken nutzen, und zwar vor allem pubmed ncbi und Pubpsych. Wie das geht erkläre ich in der Sitzung. Hier zwei Podcasts aus dem vergangenen Semester.
Fachdatenbankrecherche
Nicht frei verfügbare Datenbanktreffer in den Bibliotheken der Region lokalisieren
Sie sollten in Ihrem Referat folgende Schwerpunkte setzen:
- Was ist das für ein Störungsbild?
- Welche Symptome zeigen Menschen mit dieser Störung?
- Welche Theorien zur Verursachung werden diskutiert?
- Wie wird das Störungsbild diagnostiziert?
- Wie häufig ist das Störungsbild?
- Welche evidenzbasierten Methoden werden in der Therapie eingesetzt
- Welche Auswirkungen hat die Diagnose auf das weitere Leben? Sind die so diagnostizierten Menschen Stigmatisierungen ausgesetzt?