Verhaltensstörung, Trauma, Gewalt

In der Jugendhilfe haben Sozialarbeiter*innen ziemlich häufig mit Kindern und Jugendlichen zu tun, die sich nicht an Regeln halten. Sie sind aggressiv und laut. Sie haben Probleme in der Schule, sie machen Probleme in der Wohngruppe und sie haben Probleme mit der Polizei. Viele von ihnen sind traumatisiert. Diese Veranstaltung stellt die einschlägigen Störungsbilder vor und erläutert die wichtigsten theoretischen Konzepte. Sie erklärt, wie man in der diagnostischen Arbeit vorgeht. Und sie erklärt, was in der Psychotherapie für diese Kinder und Jugendlichen angeboten wird und welche Schlussfolgerungen hieraus für die pädagogische Praxis zu ziehen sind. 

Diese Veranstaltung richtet sich an Studierende der Sozialen Arbeit im Modul 4.1

Erste Sitzung

In der ersten Sitzung informiere ich über den Aufbau des Seminars. Ich erkläre, welche Erwartungen ich habe, wenn Sie das Portfolio bei mir machen wollen. Und wir starten mit einem kleinen Planspiel: Die Teilnehmer*innen werden gebeten sich vorzustellen, die Bundesinnenministerin hätte das Seminar darum gebeten, Maßnahmen zu entwickeln, die dafür sorgen, dass sich die Sylvester-Krawalle nicht wiederholen bzw. die die gestiegenen Zahlen in Sachen Jugendgewalt reduzieren helfen.

Zweite Sitzung

Die zweite Sitzung konfrontiert die Vorschläge des Seminars mit einer Analyse von Johannes Mand. Der Vortrag stellt fest, dass die wichtigen gesellschaftlichen Entwicklungen zu Problemen in den Familien insbesondere in sozialen Brennpunkten führt. Der Verlust von Heimat, das Verschwinden von Jobs für gering qualifizierte Menschen, die schädlichen Auswirkungen exzessiver Nutzung von digitalen Medien und die abnehmende Bedeutungen Kirchen führen zu Sinnstiftungsproblemen, die kaum mehr aufgefangen werden können.

Hier ein passender Podcast, in dem ich erkläre, welche gesellschaftlichen Veränderungen zu den Problemen führen:


Tab 1: Auswirkungen gesellschaftlichen Wandels auf Jugendliche in sozialen Brennpunkten 
Krieg und Vertreibung

Globalisierung

Digitalisierung / Robotisierung

Abnehmende Bedeutung von Religion

Folge: Familien sind in Schwierigkeiten
Familien von Geflüchteten unter Anpassungsdruck.
Erwerbsarbeit wird für große Teile der Bevölkerung weninger wichtig.
Sinnstifter verschwinden.
Einsamkeit, Isolation und psychische Erkrankungen nehmen zu.
Kinder sind durch Zugänglichkeit von Pornographie und Gewaltdarstellungen in Gefahr, Beziehungen werden durch leichte Zugänglichkeit von Tinder & co destabilisiert.

Das Seminar hat hierzu folgende Vorschläge entwickelt:

Dritte Sitzung (8.5.): Verhaltensstörungen

In der dritten Sitzung geht es um Verhaltensstörungen. Die Sitzung beginnt mit einer Übung. Ich stelle Ihnen diagnostische Informationen zu einigen Kindern zur Verfügung. Sie überlegen, welches dieser Kinder als verhaltensgestört einzustufen ist.

Es gibt einige Zeitgenossen, die den Begriff „verhaltensgestört“ so verwenden, als handele es sich um ein festes Persönlichkeitsmerkmal, für dessen Entstehung normalerweise die Eltern verantwortlich sind. Aber in der Frage, wer verhaltensgestört ist und wer nicht, gibt es unterschiedliche Meinungen. Verhalten, das 1990 als Merkmal auffälligen Verhaltens gegolten hat, kann heute normal sein. Verhaltensweisen die in Düsseldorf als Ausdruck schwerer Verhaltensstörungen gewertet werden, können in Gelsenkirchen mit Gleichmut hingenommen werden. Und natürlich gibt es auch unter Pädagog*innen unterschiedliche Auffassungen darüber, wer nun als verhaltensgestört eingestuft werden sollte, und wer eher nicht.

Zu Beginn der Sitzung hat das Seminar einen Fragebogenauszug aus der Child Behaviour Checklist so ausgefüllt, wie ihr Klassenlehrer sie als 11jährige sehen würde (Fragen zu externalisierenden Störungen). Das Ergebnis: 50% der Teilnehmer*innen erreicht Werte zumindest im Grenzbereich der Auffälligkeit. Das ist deutlich mehr, als zu erwarten ist. Man kann also vermuten, dass ein Studium der sozialen Arbeit und der Besuch einer Veranstaltung mit diesem besonderen Schwerpunkt eine besondere Klientel von Studierenden anzieht.

Schlecht ist das sicher nicht. Denn, wer nicht allzu anpassungsbereit als Schüler*in gewesen ist, der kann vielleicht gut nachvollziehen, wie sich Kinder, Jugendliche und Erwachsene fühlen, die heute als „verhaltensgestört“ eingestuft werden.


Tab 6
: Begriff Verhaltensstörungen: AO-SF § 5 (3)
Erziehungsschwierigkeit liegt vor, wenn sich eine Schülerin oder ein Schüler der Erziehung so nachhaltig verschließt oder widersetzt, dass sie oder er im Unterricht nicht oder nicht hinreichend gefördert werden kann, und die eigene Entwicklung oder die der Mitschülerinnen und Mitschüler erheblich gestört oder gefährdet ist.
Tab 7 Relativität von Verhaltensstörungen
Verhaltensstörungen und ihre Synonymbegriffe sind relativ (Bach 1989).
Sie sind eher das Ergebnis eines vergleichsweise komplexen Prozesses mit vielen Beteiligten als eine feste Eigenschaft (Mand 2003).
Dies hat Auswirkungen auf die Zahlen und die Diagnose.
Tab 8: Auswirkungen von Beobachtervariablen auf die Wahrnehmung auffälligen Verhaltens
GeschlechtHoughton u.a. (1988), Kearny & Plax (1986), Kearny & Plax (1987), Mittelmark & Pirie (1988), Borg & Falzon (1989), vgl. Bach u.a. (1984), Mc Intyre (1988), Mand (2002 b), Baumgardt/Mand/Ostermann (2008)
Alter, Berufserfahrung, Berufszufriedenheit des LehrersTornow (1978), Bach (1987), Kearny & Plax (1986), Kearny u.a. (1987), Camp (1987), Mand (1995), Mand (2002 a)
Pädagogische ArbeitWetzel (1978), Vaughn & Lancelotta (1986), Lochman u.a. (1987), Trovato u.a. (1992), Harris u.a. (1992), Fuchs u.a. (1989), Mand (1995)
Tab 49: Lernbehinderungen, Verhaltensstörungen und einige ihrer Synonymbegriffe nach Mand 2003
Verhaltensstörungen, Auffälliges Verhalten, Sopäd Förderbedarf im Bereich Em SozLernbehinderung, Lernprobleme, Lernstörungen, Sopäd. Förderbedarf im Bereich Lernen
Kernsymptome: Probleme in den Beziehungen zu Mitschüler/innen und Lehrer/innen
Probleme im Arbeitsverhalten
Probleme im Bewegungsverhalten
Probleme in Aufmerksamkeit und Wahrnehmung
Probleme im Umgang mit Gefühlen

begleitende Symptome
Probleme im Schriftspracherwerb
Probleme in der Entwicklung mathematischen Denkens
Kernsymptome:
Probleme im Schriftspracherwerb
Probleme in der Entwicklung mathematischen Denkens






begleitende Symptome
Probleme in den Beziehungen zu Mitschüler/innen und Lehrer/innen
Probleme im Arbeitsverhalten
Probleme im Bewegungsverhalten
Probleme in Aufmerksamkeit und Wahrnehmung
Probleme im Umgang mit Gefühlen
Tab 4: Konzepte der Erziehungshilfe 
These: Weil die Klientel der Erziehungshilfe sich zu großen Anteilen aus benachteiligten Kindern und Jugendlichen rekrutiert & diese Klientel zu erheblichen Anteilen Lern- und Verhaltensprobleme zeigt, haben Konzepte der Erziehungshilfe sehr viel mit Konzepten der Verhaltensgestörtenpädagogik zu tun 
Arbeitsfelder der ErziehungshilfeTheorien der Verhaltensgestörtenpädagogik nach Benkmann 1989
Beratung von Eltern mit ADS-Kindern / hochbegabten Kindernbiophysische Ansätze
Beratungsarbeit, Konzeptausrichtung von Heimen & Tagesgruppen, Interventionsstrategien in Einrichtungen der Erziehungshilfepsychodynamische Ansätze
Interventionsstrategien in Einrichtungen der Erziehungshilfe verhaltenstheoretische Ansätze
Konzepte der Randgruppenarbeit (z. B. Lebensweltorientierung)soziologische Ansätze
Ideologischer Hintergrund für Mitarbeiter in Einrichtungen der Erziehungshilfepolitökonomische Ansätze
Bezugstheorien & Konzepte von Einrichtungen ökologische Ansätze
nicht von Benkmann erfasst , aber bedeutsam in Einrichtungen, die mit auffälligen Kindern & Jugendlichen arbeiten
Konzeptausrichtung & Methodischer Hintergrund in Einrichtungen der E-HilfeErlebnispädagogik

Verhaltensstörungen

Vierte Sitzung: Verhaltensstörungen Teil 2

Die fünfte Sitzung greift das Thema Verhaltensstörungen noch einmal auf. Das Seminar beginnt mit einer theoretischen Einordnung. Es folgt eine erste Fallbeschreibung, zu denen die Studierenden Fördervorschläge entwickeln sollen. Abschließend versuche ich die Lösungsvorschläge therapeutischen Schulen zuzuordnen.

Die Fallbeschreibung kann ich aus datenschutzrechtlichen Gründen leider nicht online stellen.

Das Seminar hat einige Interventionsvorschläge zum Fall Fischmaul zusammengetragen, die am Ende der Sitzung Theorieschulen zugeordnet werden. Große Zufriedenheit macht sich aber nicht breit.

Fünfte Sitzung (Online-Sitzung 22.5.)

Die fünfte Sitzung findet – wie vielfach angekündigt – ausschließlich als Online-Sitzung statt. Die Sitzung verläuft auf studentischen Wunsch asynchron. D.h.: Sie können selbst entscheiden, wann Sie sich die Podcasts anhören und wann Sie die Aufgaben bearbeiten (bis Freitag, 24.00 Uhr). Während der eigentlichen Seminarzeit (also von 8.30-10 Uhr) bin ich online und kann – je nach Andrang – rasch reagieren. Außerhalb der Seminarzeiten kann das vielleicht einige Stunden dauern.

Wenn Sie möchten, können Sie Ihre Bearbeitung der Aufgabe mir per Mail zukommen lassen. Nennen Sie mir einen Nickname, lade ich Ihre Antwort hoch. Alternativ können Sie auch die Kommentarfunktion meiner Homepage nutzen. Ich schalte dann Ihre Kommentare frei, wenn ich sehe, dass sie von Studierenden meiner Veranstaltung kommen. Bitte beachten Sie, dass ich Ihre Beiträge nur dann hochladen kann, wenn Sie mich bis Freitag 24 Uhr erreichen. Ich lade die dann, spät eingegangenen Beiträge voraussichtlich am Samstagmorgen hoch.

Die 5. Sitzung greift den Fall „Fischmaul“ noch einmal auf. Denn Fischmaul hat vor allem ein entwicklungspsychologisches Problem. Und das kann man gut angehen, auch dann, wenn von den Eltern keine Unterstützung kommt.

Den Fall Fischmaul habe ich ausgewählt, weil er auf ein ziemlich verbreitetes Problem von Menschen mit Verhaltensstörungen verweist: Menschen mit Verhaltensstörungen haben häufig ein Problem damit, die Intentionen von anderen zu verstehen bzw. sich in andere hineinzuversetzen. Der Fachbegriff für diese sozialkognitive Kompetenz lautet Perspektivenübernahme (bei Piaget und seinen Nachfolgern), Role taking (in Orientierung an Mead) oder Theory of Mind.

Egozentrismus, Perspektivenübernahme, Role Taking


Entwicklung der Perspektivenübernahme (aus Selman 1982, 240 f) Selman, R.: Sozial-kognitives Verständnis – Ein Weg zu pädagogischer und klinischer Praxis. In: Geulen, D. (Hrsg.): 1982, Perspektivenübernahme und soziales Handeln, Frankfurt a. M. 223-256
Stufe 0: Egozentrische Perspektive (Alter 3-6 Jahre)Das Kind nimmt zwar den Unterschied zwischen sich und anderen wahr, unterscheidet aber noch nicht zwischen seiner sozialen Perspektive (Gedanken und Gefühle) und der der anderen. Es kann von anderen offen gezeigte Gefühle benennen, aber sieht noch nicht den kausalen Zusammenhang zwischen Handlungsgründen und Handlungen.

Stufe 1: Sozial-informationsbezogene Perspektivenübernahme (6-8 Jahre)
Das Kind nimmt wahr, dass der andere eine eigene, in seinem Denken begründete Perspektive hat und dass diese seiner eigenen Perspektive ähnlich oder auch nicht ähnlich sein kann. Jedoch kann sich das Kind nur auf jeweils eine Perspektive konzentrieren und nicht verschiedene Gesichtspunkte koordinieren. 

Stufe 2: Selbstreflexive Perspektivenübernahme (8-10 Jahre)
Dem Kind ist bewusst, dass jedes Individuum der Perspektive des anderen gegenwärtig ist und dass dies jeweils die Sicht seiner selbst wie die vom anderen beeinflusst. Eine Möglichkeit, die Intentionen, Absichten und Handlungen eines anderen zu beurteilen, besteht darin, sich an seine Stelle zu versetzen. Das Kind kann eine koordinierte Kette von Perspektiven bilden, aber noch nicht von diesem Prozess auf die Ebene simultaner Gegenseitigkeit abstrahieren.

Stufe 3: Wechselseitige Perspektivenübernahme (10-12 Jahre)
Das Kind nimmt wahr, dass sowohl es selbst wie auch der andere den jeweils anderen Teil wechselseitig und gleichzeitig als Subjekt sehen kann. Es kann aus der Zwei-Personen-Interaktion heraustreten und diese aus der Perspektive einer dritten Person betrachten.

Stufe 4: Perspektivenübernahme mit dem sozialen und konventionellen System (12-15 Jahre und älter)
Die Person sieht, daß wechselseitige Perspektivenübernahme nicht immer zum völligen Verstehen führt. Soziale Konventionen werden als notwendig angesehen, weil sie von allen Mitgliedern der Gruppe (dem generalisierten Anderen) unabhängig von ihrer Position, Rolle oder Erfahrung verstanden werden.


Tab 52
 Stufen des moralischen Urteils Kohlberg, L.: Stufe und Sequenz: Sozialisation unter dem Aspekt der Kognitiven Entwicklung. In: Kohlberg, L.: Zur kognitiven Entwicklung des Kinders. Frankfurt a. M. 1974, 60 f

Stufe 1: Orientierung an Bestrafung und Gehorsam.
Egozentrischer Respekt vor überlegener Macht oder Prestigestellung bzw. Vermeidung von Schwierigkeiten. Objektive Verantwortlichkeit.
Stufe 2: Naiv egoistische Orientierung.
Richtiges Handeln ist nur jenes, das die Bedürfnisse des Ich und gelegentlich die der anderen instrumentell befriedigt. Bewusstsein für die Relativität des Wertes der Bedürfnisse und der Perspektive aller Beteiligten. Naiver Egalitarismus und Orientierung an Austausch und Reziprozität. 
Stufe 3: Orientierung am Ideal des ´guten Jungen´ .
Bemüht, Beifall zu erhalten und anderen zu gefallen und ihnen zu helfen. Konformität mit stereotypischen Vorstellungen von natürlichem oder Mehrheitsverhalten, Beurteilung aufgrund von Intentionen.
Stufe 4: Orientierung an Aufrechterhaltung von Autorität und sozialer Ordnung.
Bestrebt, >seine Pflicht zu tun< , Respekt vor der Autorität zu zeigen und die soziale Ordnung um ihrer selbst willen einzuhalten. Rücksicht auf die Erwartungen anderer.
Stufe 5: Legalistische Vertrags-Orientierung.
Anerkennung einer willkürlichen Komponente oder Basis von Regeln und Erwartungen als Ausgangspunkt der Übereinstimmung. Pflicht definiert als Vertrag, allgemein Vermeidung der Verletzung von Absichten oder Rechten anderer sowie Wille und Wohl der Mehrheit. 
Stufe 6: Orientierung an Gewissen oder Prinzipien.
Orientierung nicht nur an zugewiesenen Rollen, sondern auch an Prinzipien der Entscheidung, die an logische Universalien und Konsistenz appellieren. Orientierung am Gewissen als leitendes Agens und an gegenseitigem Respekt und Vertrauen. 

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