Diagnostizieren, etikettieren, stigmatisieren

Dies ist eine Unterseite aus dem Sommersemester 2022. Sie wird nicht mehr aktualisiert. Kommentare werden nicht bearbeitet.

Diese Veranstaltung richtet sich an Studierende des Studiengangs BA Soziale Arbeit (Modul 4.4).

Im Grundsatz geht es darum zu verstehen, wie Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen ticken. Denn evidenzbasiertes Denken unterscheidet sich doch sehr von dem, was Sozialarbeiter*innen normalerweise wichtig ist und was Studierende der Sozialen Arbeit normalerweise in ihrem Studium lernen. Ein wichtige Basis evidenzbasierter Medizin und evidenzbaierter Psychotherapie ist die Annahme, dass man eine Störung, ein Problem genau und objektiv diagnostizieren muss, um auf dieser Basis in Auseinandersetzung mit quantitativen Forschungsbefunden zu entscheiden, welche Behandlungsmethoden in Frage kommen. Dabei kommen in aller Regel Testverfahren zum Einsatz. Und diese Testverfahren entscheiden manchmal sehr weitgehend darüber, welches Leben die Klient*innen leben können, und welche Lebensläufe schwierig werden oder gar ausgeschlossen sind.

Wie in jedem Metier gibt es allerdings auch in der diagnostischen Arbeit gute Verfahren und schlechte Verfahren. Die Lehrveranstaltung erklärt in einem ersten Teil deshalb, wie man gute von schlechten Verfahren unterscheidet. Der zweite Teil befasst sich mit Störungsbildern, denen Sozialarbeiter*innen häufig begegnen. Dabei geht es nicht allein nur darum, zu verstehen, was die diagnostischen Merkmale der Störungsbilder sind, wie häufig sie sind und welche Behandlungsmethoden eingesetzt werden. Sondern es geht auch darum, welche Fehler in der diagnostischen Arbeit auftreten können und welche Folgen Diagnosen haben können.

Am 11.4.22 habe ich von der Modulbeauftragten eine E-Mail erhalten. Im Modulhandbuch steht zwar, dass als Prüfungsform Hausarbeit oder Präsentation vorgesehen ist. Aber nun hat auf Antrag der Modulverantwortlichen der Prüfungsausschuss beschlossen, dass die Prüfungsform vor der Anmeldung der Prüfungen durch die Lehrenden bekannt gegeben werden muss. 
Ich habe dies am 13.4. in meinen Veranstaltungen zur Diskussion gestellt. Die Teilnehmer*innen haben ziemlich klar für die Prüfungsform Hausarbeit votiert. 
Ich teile deshalb nun mit: Die Prüfungsform für meine beiden 4.4 Seminare im Sommersemester 2022 ist: Hausarbeit. 


Ich bedauere, dass ich das erst jetzt erfahren habe und verstehe, wenn Sie sich nun für ein anderes Seminar entscheiden. Studierende, die meine Seminare besuchen, können sich aber immerhin darauf verlassen, dass sie ihre Prüfung auch bei mir anmelden können. 

Erste Sitzung

In der ersten Sitzung stelle ich mich und die Veranstaltungsplanung vor. Sie erfahren von mir, welche Standards gelten, wenn Sie sich für eine modulabschließende Prüfung bei mir entscheiden wollen. Und dann geht es gleich zur Sache. Sie sollen einen Vorschlag entwickeln, welches Testverfahren eingesetzt werden soll, um in den Grundschulen der Region Ruhrgebiet Legasthenie zu diagnostizieren. Als Einstieg ist das sicher eine gute Übung.

Die Teilnehmer*innen des Seminars haben mit Suchmaschinen ihrer Wahl zunächst versucht, herauszufinden, was Legasthenie ist. Dabei gab es überholte Positionen (z. B., dass Legastheniker typische Rechtschreibfehler machen, dass der Begriff LRS den Begriff Legasthenie ersetzt hat) und einiges Richtiges. Richtig ist z. B., dass Legasthenie nach wie vor häufig über die Diskrepanzdefinition bestimmt wird. Legastheniker können sehr viel schlechter lesen bzw. schreiben, als man von ihrer Intelligenz her erwarten müsste. Für die Diagnose von Legasthenie braucht man also beides: Lese-/Rechtschreibtests und Intelligenztest. Einen guten Überblick über die derzeitig verfügbaren Testverfahren vermittelt die Homepage Testzentrale de. Bei dem Versuch, eine begründete Auswahl zu treffen, kam der Vorschlag auf, man solle doch bei der Auswahl darauf achten, in welcher Auflage ein Test veröffentlicht wird (Argument: Was mehrfach aufgelegt ist, ist gut). Dieses Argument trägt allerdings nicht ganz. Denn eine Neuauflage bedeutet nicht zwingend, dass es eine hohe Nachfrage gab. Und eine Neuauflage heißt vor allem nicht, dass der Test neu untersucht wurde. Testverfahren müssen nämlich regelmäßig in empirischen Studien ausprobiert werden. Diese Studien nennt man „Normierungssstudien“. Und das Alter einer Normierungsstudie ist tatsächlich von großer Bedeutung. Im Fall von Lese-/Rechtschreibtests muss man z. B. davon ausgehen, dass sich die Leistungen in diesem Bereich seit einiger Zeit Jahr für Jahr verschlechtert haben. Wenn man ein Verfahren mit einer alten Normierungsstichprobe auswählt, sehen Kinder also schlechter aus, als sie eigentlich sind.

Diese Besonderheit machen sich einige Legastheniezentren zunutze. Denn wer Legasthenie-Therapie verkaufen will, braucht Kinder mit Legasthenie. Und schlechte Leistungen im Lesen und Schreiben sind da wirklich ein willkommener Befund. Ähnliches gilt übrigens auch für die Förderschulen. Allem Reden über Inklusion zum trotz gilt nämlich nach wie vor: Förderschulen brauchen Förderschüler*innen. Und Förderschüler*innen erkennt man u. a. an schlechten Schulleistungen (z. B. in der Förderschule Lernen). Wäre also wirklich sinnvoll, wenn die untersuchten Kinder nicht allzu gut abschneiden, oder?


Tab 13: Diagnose LRS: DSM IV / ICD-10 nach Deimel 2002 
1. Schulleistung ist kleiner als aufgrund von IQ, Alter und Beschulung zu erwarten ist
2. Es liegt eine klinisch relevante Beeinträchtigung bzw. ein Leidensdruck vor
3. Ausschluss: unangemessene Beschulung, periphere Seh- & Hörstörung,
DSM IVICD 10
neurologische und emotionale Erkrankungen nicht als Ausschlusskriterien genanntneuologische und emotionale Erkrankungen, die ursächlich für Schulleistungsproblematik sind, als Ausschlusskriterien genannt
Diskrepanz von 2, im begründeten Einzelfall 1 StandardabweichungDiskrepanz mit Regressionsansatz berechnet
Tab 14: Praktisches Vorgehen bei der Diagnose von LRS nach Deimel 2002, 125 / IQ-Tabelle nach Schulte-Körne u.a. 2001
Die Leistungsmessung erfolgt mit standardisierten Verfahren ab Ende Klasse 2
Es sind Schulformübergreifende Normen zu verwenden.
Beeinträchtigung und Leidensdruck sollen durch psychologische Untersuchung (Exploration, Testverfahren Emotionaldiagnostik) erhoben werden, das Ausmaß der Beinträchtigung durch Befragung Kind, Eltern, Lehrer).
Ausschlusskriterien durch medizinische Untersuchung
Diskrepanz: Rechtschreib-Prozentrang < 16, regressionsbasierte IQ-Diskrepanz von 1,5 Standardabweichungen
IQRechtschreib-Prozentrang kleiner alsIQRechtschreib-Prozentrang kleiner als
70-741108-10910
75-822100-11111
83-87311212
88-924113-11513
93-96511614
97-99611715
100-1027> 11816
105-1079  

Zweite Sitzung

Die zweite Sitzung befasst sich mit den Begriffen Stigmatisierung und Etikettierung.

Hier ein passender Podcast aus dem vorangehenden Semester:

Etikettierung und Stigmatisierung

Tabelle 61 Positionen von George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft (zuerst englisch 1934)
Mead untersucht u.a. Interaktion und Verstehen unter Menschen.
Bekannt geworden ist Geist, Identität und Gesellschaft vor allem durch seine Thesen zur Identität und zum Fremdverstehen. 
Grundgedanke ist die Überlegung, dass Identität entsteht, indem man sich aus der Perspektive anderer wahrnimmt.
Diesen Mechanismus nennt Mead „role-taking“, ein Konzept, das später von Piaget und Nachfolgern wieder aufgegriffen wird und in heutigen Zusamenhängen unter dem Begriff theory of mind diskutiert wird.
Role-Tanking funktioniert bei Mead nicht nur in Bezug auf konkrete andere. Sondern Menschen können sich selbst auch aus der Perspektive von sozialen Gruppen wahrnehmen oder noch allgemeiner aus der Perspektive des „Verallgemeinerten anderen“.
Identität umfasst dabei einerseits die tatsächlich gesprochenen Worte und Emotionen (Mead bezeichnet diesen Teil der Identität als „I“) und andererseits die organsierte Gruppe anderer (Mead prägt hierfür den Begriff „me“).
Tab 4: Identität & Stigma nach Goffman (1962)
virtuale soziale Identität als das, was andere von uns erwarten aktuale soziale Identität als das, was wir wirklich sind 
Stigmatisierung als Diskrepanz zwischen aktualer & virtualer sozialer Identität (bei diskreditierenden Erwartungen anderer) 
3 Arten von Stigmata: Abscheulichkeiten des Körpers, individuelle Charakterfehler, phylogenetische Stigmata (Rasse, Nation, Religion) 
Tab 5: Auswirkungen des Stigmas auf die Interaktion nach Goffman (1962)
Stimatisierteunsicher, weil sie spüren, dass das Stigma wahrgenommen wird Gefühl nicht zu wissen, was andere denken defensives Sichverkriechen oder feindselige Kontakte NormaleAntizipation der Probleme so tun, als gebe es das Stigma nicht so tun, als sei der Stigmatisierte ein Niemand 
Tab 59: Howard S. Becker (1963)
Abweichendes Verhalten setzt Regeln voraus, deren Verletzung abweichendes Verhalten konstituiert.
Diese Regeln werden durchgesetzt, wenn die Durchsetzer darin einen Vorteil sehen.
Die Durchsetzung/ das Aufzwingen von diesen Regeln basiert auf Macht und Stellung.
Etikettierung umfasst als Prozesseinen Verstoß gegen eine Regel
die (öffentliche) Definition dieses Regelverstoßes als abweichendes Verhaltendie Chancenreduzierung des Etikettierten
die Übernahme der Fremddefinition
als Folge: eine deviante Karriere

Dritte Sitzung

Mit der dritten Sitzung beginnt der Diagnostik-Teil dieser Veranstaltung. Dieser Teil befasst sich mit der Frage, woran man gute und schlechte Testverfahren erkennt. In der diagnostischen Diskussion gibt es einen Fachbegriff für diese Frage nach der Qualität von Testverfahren. Psychologen und Ärzte sprechen von Gütekriterien, wenn sie sich darüber unterhalten, ob sie einen Test für geeignet halten.

Ein erster, wichtiger Schritt ist es, sich die Stichprobe der Untersuchungen anzuschauen, in der die jeweiligen Testverfahren ausprobiert wurde. Diese Studien nennt man: Normierungsstudien oder auch Eichstudien. Und über diese Studien informieren normalerweise die Handbücher der Testverfahren. Die dritte Sitzung befasst sich also mit dem Gütekriterium Normierung.

Hier zunächst ein passender Podcast aus dem letzten Semester:

Normierung

Nach dem Vortrag haben die Teilnehmer*innen einige Testverfahren geprüft. Fragestellung war: Wie alt ist die Stichprobe und gibt es Probleme in der Stichprobe. Ergebnis: Keiner der geprüften Tests hatte eine repräsentative deutsche Normierungsstichprobe. Der CFT1 hatte vor allem eine alte Stichprobe – dies führt vermutlich dazu, dass die Kinder bessere Ergebnisse erzielen. Die Wechsler Skalen für Erwachsene und der Kaufmann Intelligenztest in der jeweils aktuellen Fassung hatten einen guten Stichprobenumfang. Die erste Normierung des Kaufmann war einstens repräsentativ.

Vierte Sitzung

In der vierten Sitzung geht es zunächst um die Frage, wann ein Test objektiv ist. Anders als im umgangssprachlichen Gebrauch mein dieser Begriff in der diagnostischen Diskussion allerdings eine ganz besonderes Merkmal. Objektiv ist ein Test dann, wenn er unabhängig von dem/der Testleiter*in ist. Denn Testleiter*innen können durch Fehler in der Durchführung den Ergebnis beeinflussen. Die Bedingungen während der Testung können ungünstig sein. Testleiter*innen machen ziemlich häufig auch Fehler bei der Auswertung. Sogar wenn das Ergebnis richtig ermittelt worden ist, kann man auch in der Interpretation falsch liegen. Denn so eindeutig sind Testbefunde keineswegs, dass alle Beteiligten immer genau wissen, was aus den Befunden folgt.

Hier ein passender Podcast aus dem letzten Semester. Anders als in der Präsenzsitzung ist hier -neben der Erklärung von Objektivität aber bereits die Erklärung eines für die nächsten Sitzung wichtigen Kennwerts Gegenstand der Sitzung.

Reliabilität und Standardabweichung

Fünfte Sitzung

Die fünfte Sitzung bereitet die Beschäftigung mit der Reliabilität vor. Die meisten Testverfahren investieren viel Zeit darin, nachzuweisen, dass der angebotene Test reliabel ist. Es geht dabei z. B. um die Frage, ob ein Test, der sagen wir zu Weihnachten durchgeführt wurde auch noch zu Ostern die gleichen Ergebnisse ermittelt. Und das ist ja wirklich wichtig. Um das Konzept der Reliabilität zu angemessen einschätzen zu können, ist es allerdings wichtig, zu verstehen, wie ein Korrelationskoeffizient funktioniert. Und dies setzt wiederum voraus, dass man auch weiß, was eine Standardabweichung ist.

Normalerweise schreckt bereits die Ankündigung von Sitzungen mit statistischen Kennwerten Studierende ab. Ist aber wirklich wichtig, wenn nicht sogar zentral für das Seminar. Viele Gutachten machen hier Fehler. Und dann sagen zu können: „Moment, Sie verwenden ein Verfahren, in dem noch nicht einmal die Test-Re-Test-Reliabilität untersucht wurde“. Oder: „Warum berücksichtigen Sie nicht Vertrauensintervall oder Standardmessfehler“? ist wirklich hilfreich.

Ich verspreche, dass ich alles so erkläre, dass jede/r folgen kann. Wichtig sind zunächst Standardabweichung und Korrelation.

Hier kommen die podcasts:

Standardabweichung

Korrelationskoeffizienten

Sechste Sitzung

Auch die sechste Sitzung befasst sich noch einmal mit der Relibailität. Denn mit dem Reliabilitätskoeffizienten lässt sich eine weitere, wichtige Aussage treffen: Man kann nämlich den Standardmessfehler und das Vertrauenintervall bestimmen. In der diagnostischen Diskussion zum Thema Reliabilität ist man sich nämlich weitgehend einig, dass es sinnvoll ist, davon auszugehen, dass Testverfahren nicht vollständig präzise sind. Deshalb wird zwischen dem gemessenen Wert und dem wahren Wert unterschieden. Die Berechnung des Standardmessfehlers soll helfen zu entscheiden, wie groß der Unterschied zwischen diesen beiden Werten ausfallen kann. Ein Standardmessfehler von +- 5 IQ Punkten kann insbesondere dann zu falschen Diagnosen führen, wenn die gemessenen Werte nahe an den Grenzwerten liegen. Ein IQ 83 kann also bei schlechten Testverfahren bedeuten: Vielleicht liegt eine Lernbehinderung vor, vielleicht aber auch nicht. Reliabilität und Standardmessfehler sind also wirklich wichtige Kennwerte. Und aus eigener diagnostischer Erfahrung weiß ich: Viele Gutachten kümmert das alles nicht.

Hier ein passender Podcast aus dem letzten Jahr:

Reliabilität und Standardmessfehler

Siebte Sitzung

Die siebte Sitzung befasst sich mit dem Thema Validität.

Das Gütekriterium Validität untersucht die Frage, ob ein Test wirklich das misst, was er zu messen vorgibt. Interessant ist hier vor allem die Frage nach der prognostischen Validität. Denn es ist schon sehr wichtig, dass Tests Vorhersage über die weitere Entwicklung erlauben – zumindest dann, wenn Tests nur eher selten durchgeführt werden.

Validität

Achte Sitzung

In der achten Sitzung geht es um die Frage, welche Testverfahren als fair einzustufen sind. Das Gütekriterium Fairness befasst sich dabei mit der Frage, ob bestimmte soziale Gruppen oder auch Menschen aus besonderen Regionen benachteiligt werden.

Hier ein passender podcast aus dem vergangenen Semester. Der podcast untersucht die Frage vor allem hinsichtlich Kindertagesstätten.

Fairness

Tab 22: Der Einfluss von Testverfahren in kulturvergleichenden IQ Studien (Wicherts 2010) in Untersuchungen zum mittleren IQ in Subsaharastaaten Afrikas
K-ABC
WISC-R
Draw-A-Man 
WAIS-R/WAIS III
CFT 
IQ 73
IQ 75
IQ77,7
IQ 79
IQ86,7
Tab 23: Empfehlungen des Bayrischen Landesjugendamts zur gutachterlichen Stellungnahme bei der Feststellung seelischer Behinderungen. 
§_035a.htm Zugriff www blja.bayern de/Textoffice/Gesetze/Textsammlung_SGB_VIII/TextOfficeSGBVIII_ am 28.2.2007
1.1 Untersuchungen und Angaben zum „Klinisch-psychiatrischen Syndrom“ (Achse 1): Das Gutachten soll eine Angabe darüber enthalten, ob eine psychische Störung im Sinne eines „klinisch-psychiatrischen Syndroms“ vorliegt. Soweit es diagnostisch möglich ist, soll eine Aussage darüber erfolgen, in welcher Weise ggf. die psychische Störung im Zusammenhang mit einer Teilleistungsschwäche des Kindes oder Jugendlichen steht. …1.2 Zu den „umschriebenen Entwicklungsstörungen der schulischen Fertigkeiten“ (Achse 2,siehe Seite 3) … gehören u. a. die „Lese- und Rechtschreibstörung“ (Legasthenie) und die Rechenstörung (Dyskalkulie). … Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten sind als seelische Behinderung oder drohende seelische Behinderung zu werten, wenn zur Funktionsstörung ein soziales Integrationsrisiko hinzukommt, so daß die Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen und seine Eingliederung in die Gesellschaft aller Voraussicht nach beeinträchtigt wird. … Im Gutachten sind die Verfahren und die Ergebnisse zu benennen, nach denen die Diagnose der Entwicklungsstörung des Lesens und Rechtschreibens bzw. der Rechenstörung oder anderer Teilleistungsschwächen festgestellt wurden. … Das Gutachten muß Angaben über das schulische/berufliche Versagen im Lesen und Rechtschreiben enthalten. Grundlage dafür sind z.B. schulische Stellungnahmen und Schulzeugnisse, mangelhafte und ungenügende Diktatnoten. … Der Prozentrang im Rechtschreib- bzw. Lesetest sollte < 10 % entsprechen. Aufgrund der Fehlerstreuung der Testverfahren ist dieser Prozentrang nicht als strikte obere Grenze, sondern als Richtwert zu verstehen, der im Rahmen der übrigen diagnostischen Befunde zu bewerten ist. …1.3 Angaben zum Intelligenzniveau (Achse 3):Unverzichtbar sind Angaben zur allgemeinen Intelligenzentwicklung. Dazu muß im Gutachten das angewandte Verfahren benannt werden. Als geeignete Verfahren bieten sich an: HAWIK-R, Kaufmann-Test, Adaptives-Intelligenzdiagnostikum (AID), CFT1 und CFT20. Liegen die Testwerte bei CFT1 bzw. CFT20 im unteren Durchschnittsbereich (IQ 85 bis 95), so empfiehlt es sich eine Überprüfung mit den Verfahren HAWIKR oder Kaufmann-Test bzw. AID, um eine allgemeine Intelligenzminderung auszuschließen. Nach den Kriterien von ICD-10 ist für die Feststellung der Entwicklungsstörung ein Intelligenzquotient > 70 vorauszusetzen.Das Gutachten muß eine Beurteilung darüber enthalten, inwieweit eine Diskrepanz zwischen der allgemeinen intellektuellen Begabung und dem Versagen im Lesen und Rechtschreiben bzw. im Rechnen besteht. ….1.4 Angaben zur Körperlichen Symptomatik“ (Achse 4 Das Gutachten muß eine Aussage darüber enthalten, daß eine neurologische Erkrankung (z.B. Epilepsie, Cerebralparese), Sinnesbehinderungen (vor allem im Bereich des Sehens und Hörens) sowie andere körperliche Beeinträchtigungen als Ursache für das Versagen im Lesen, Rechtschreiben bzw. Rechnen ausgeschlossen sind. …
1.5 Angaben zu „Aktuellen abnormen psychosozialen Umständen“ (Achse 5):Die gutachterliche Untersuchung soll die Kenntnis der psychosozialen Lebensumstände des betroffenen Kindes und Jugendlichen einschließen. … Ergänzend zu den Klassifikationskategorien, wie sie im Multiaxialen Klassifikationsschema der Achse 5 angeführt sind, muß überprüft sein, inwieweit eine schulische Förderung des Kindes erfolgt ist (spezielle Stützkurse seitens der Schule, Hausaufgabenhilfe, wesentliche Fehlzeiten usw.). Hilfreich ist eine Aussage darüber, aus welchen Gründen die familiären und innerschulischen Bemühungen nicht ausgereicht haben. Es ist zu verdeutlichen, daß eine außerschulische und außerfamiliäre Behandlung (z.B. „Legasthenietherapie“, „Rechentherapie“) erforderlich und geeignet ist, um die genannten Störungen und damit die (drohende) seelische Behinderung wirksam zu mildern und die soziale und schulische bzw. berufliche Eingliederung zu stützen.1.6 Angaben zur „Globalbeurteilung der psychosozialen Anpassung“ (Achse 6):Das Gutachten muß dazu Stellung nehmen, inwieweit die psychosoziale Anpassung des Kindes bzw. Jugendlichen zum Begutachtungszeitpunkt beeinträchtigt ist.

Neunte Sitzung

Wie bereits vielfach angekündigt finden die neunte und zehnte Sitzung dieses Seminars ausschließlich als Online-Sitzung statt. Sie finden auf dieser Unterseite Podcasts. Bitte hören Sie sich diese Podcasts an und bearbeiten die Aufgaben. Wenn Sie mir diese Aufgaben unter Nennung eines Nicknames zusenden, lade ich Ihre Beiträge auf dieser Seite hoch. Während der Seminarzeiten geschieht dies vergleichsweise schnell. Denn dann bin ich für Sie zuverlässig zu erreichen. Außerhalb der Seminarzeiten kann meine Reaktion vielleicht manchmal etwas auf sich warten lassen.

Die neunte Sitzung befasst sich mit zwei Störungsbildern. Zunächst erkläre ich, was Verhaltensstörungen sind. In einem zweiten Teil der Veranstaltung stelle ich das Störungsbild ADHS vor.

Verhaltensstörungen

Tab 5 Prävalenzzahlen Verhaltenstörungen
Remschmidt/Walther 1990
Mand 1995 (Berlin, 4. Klasse)
KMK 1999
MSW 2002
KMK für Schuljahr 2018
Mand2007 (NRW, 4. Klasse)
13 % – 31 %
1991: 12,5 % Grund-
1994: 16,1 % schulen
0,360,47
D: 0,56 % in der Förderschule NRW: 1,02 %
in der Förderschule 11 % (GE-Schulen) 38 % (F-Schulen L)
Tab 6: Begriff Verhaltensstörungen: AO-SF § 5 (3)
Erziehungsschwierigkeit liegt vor, wenn sich eine Schülerin oder ein Schüler der Erziehung so nachhaltig verschließt oder widersetzt, dass sie oder er im Unterricht nicht oder nicht hinreichend gefördert werden kann, und die eigene Entwicklung oder die der Mitschülerinnen und Mitschüler erheblich gestört oder gefährdet ist.
Tab 7 Relativität von Verhaltensstörungen
Verhaltensstörungen und ihre Synonymbegriffe sind relativ (Bach 1989).
Sie sind eher das Ergebnis eines vergleichsweise komplexen Prozesses mit vielen Beteiligten als eine feste Eigenschaft (Mand 2003).
Dies hat Auswirkungen auf die Zahlen und die Diagnose
Tab 49: Lernbehinderungen, Verhaltensstörungen und einige ihrer Synonymbegriffe nach Mand 2003
Verhaltensstörungen, Auffälliges Verhalten, Sopäd Förderbedarf im Bereich Em SozLernbehinderung, Lernprobleme, Lernstörungen, Sopäd. Förderbedarf im Bereich Lernen
Kernsymptome:
Probleme in den Beziehungen zu Mitschüler/innen und Lehrer/innen
Probleme im Arbeitsverhalten
Probleme im Bewegungsverhalten
Probleme in Aufmerksamkeit und Wahrnehmung
Probleme im Umgang mit Gefühlen



begleitende Symptome
Probleme im Schriftspracherwerb
Probleme in der Entwicklung mathematischen Denkens
Kernsymptome:
Probleme im Schriftspracherwerb
Probleme in der Entwicklung mathematischen Denkens


begleitende Symptome:
Probleme in den Beziehungen zu Mitschüler/innen und Lehrer/innen
Probleme im Arbeitsverhalten
Probleme im Bewegungsverhalten
Probleme in Aufmerksamkeit und Wahrnehmung
Probleme im Umgang mit Gefühlen
Tab 8: Auswirkungen von Beobachtervariablen auf die Wahrnehmung auffälligen Verhaltens
GeschlechtHoughton u.a. (1988), Kearny & Plax (1986), Kearny & Plax (1987), Mittelmark & Pirie (1988), Borg & Falzon (1989), vgl. Bach u.a. (1984), Mc Intyre (1988), Mand (2002 b), Baumgardt/Mand/Ostermann (2008)
Alter, Berufserfahrung, Berufszufriedenheit des LehrersTornow (1978), Bach (1987), Kearny & Plax (1986), Kearny u.a. (1987), Camp (1987), Mand (1995), Mand (2002 a)
Pädagogische ArbeitWetzel (1978), Vaughn & Lancelotta (1986), Lochman u.a. (1987), Trovato u.a. (1992), Harris u.a. (1992), Fuchs u.a. (1989), Mand (1995)

ADHS

Tab 101: Erscheinungsmerkmale von ADHS nach DSM 5 (Schlottke et al 2019, 431 f.): Situationsübergeifend, wiederkehrende und vom Entwicklungsalter deutlich abweichende
UnaufmerksamkeitImpulsivitätHyperaktivität

3 Subtypen: dominierend unaufmerksamer, 
dominierend hyperaktiv-impusiver Subtyp 
und Mischtyp
Tab 102: Ätionlogische Modelle bei ADHS (Schlottke et al 2019, 433)
Psychophysiologische Besonderheiten und neurobiologische Besonderheiten (mangelnde Aktivierungsregukation, unzureichende Verarbeitung von Signalen) 

Kompetenz und Perfomanzmängel (z. B. bei Emotionsregulierung, Gedächtnisprozesse, Belohnungsaufschub) 

Negative Interaktion mit Bezugspersonen
Tab 103: Vorgehen bei der Diagnose von ADHS (Schlottke et al 2019, 436)
Diagnose sollte nur von erfahrenem Psychiater oder Psychotherapeuten durchgeführt werden.

Altersangepasste Symptomkriterien verwenden

Diagnose nur dann, wenn Diagnosekriterien nach ICD oder DSM erfüllt sind und gleichzeitig mindestens moderate Beeinträchtigungen vorliegen, die in verschiedenen Lebensbereichen durchgängig beobachtet werden.
Tab 104: Diagnostische Leitlinie für ADHS: awmf org (Zugriff am 19. Mai 2021)
Diagnose soll erstellt werden auf Grundlage 

einer umfassenden, strukturierten Exploration des Patienten (bei Kindern und Jugendlichen auch seiner Bezugspersonen)

der Verhaltensbeobachtung des Patienten (bei Kindern und Jugendlichen der Patient-Eltern-Interaktionen)

der psychopathologischen Beurteilung des Patienten auf Grundlage der explorierten und beobachteten Symptomatik

der körperlichen und insbesondere der neurologischen Untersuchung mit Beurteilung des Entwicklungsstands 
Selbsteinschätzung sollte neben der im Kindesalter entscheidenden Bedeutung des Berichts der Eltern und anderer Bezugspersonen berücksichtigt werden
Fragebogenverfahren für Eltern, Lehrer oder Patienten sind hilfreich. Diagnose soll aber nicht ausschließlich auf Grundlage von Fragebogenverfahren oder Verhaltensbeobachtung gestellt werden. Verhaltensbeobachtung außerhalb der Untersuchungssituation sind nützlich (z. B. in der Schule) 
Testpsychologische Untersuchungen können ergänzend eingesetzt werden und sind zur Beantwortung spezifischer Fragen notwendig (z. B. Bei Verdacht auf schulische Überforderung, Intelligenzminderungen). Verhaltensbeobachtungen während der Testung können ergänzende Hinweise liefern. ADHS-Symptome müssen aber nicht notwendig während Untersuchung auftreten. 
Altersbesonderheiten:

keine Diagnose unter drei Jahren

im Alter von drei bis vier Jahren kann Diagnose i.d.R. nicht hinreichend sicher gestellt werden

im Vorschulalter soll Diagnose nur bei sehr starker Ausprägung der Symptomatik gestellt werden

Risikofaktoren bei jüngeren Kindern: sehr stark ausgeprägte Unruhe, Impulsivität und Ablenkbarkeit und Störungen der Regulation
Tab 105: Differentialdiagnose nach Diagnostische Leitlinie für ADHS / awmf org (Zugriff am 19. Mai 2021)


Bei der Differentialdiagnose sollte ADHS abgrenzt werden von: 

Störung des Sozialverhaltens

stereotype Bewegungen (z. B. im Rahmen von ASS)

TIC und Tourette-Störungen (Bewegungen)

umschriebene Entwicklungs- und Lernstörungen (Unaufmerksamkeit)

Intelligenzminderung (Überforderung)

Autismus-Spektrum-Störung (Unaufmerksamkeit, Impulsivität)

Beziehungs- und Bindungsstörung mit Enthemmung (sozial enthemmtes impulsives Verhalten)

Angststörungen (Unaufmerksamkeit und Unruhe in Zusammenhang mit Angst)

depressive Störungen (Konzentrationsprobleme)

bipolare Störungen (episodisch: Überaktivität, Impulsivität und Konzentrationsprobleme)

disruptive Affektregulationsstörungen (Impulsivität im Rahmen von Reizbarkeit)

Substanzkonsumstörungen (Substanzen können Symptome einer ADHS auslösen)

Persönlichkeitsstörungen 
Schweregrad laut Diagnostische Leitlinie für ADHS / awmf org (Zugriff am 19. Mai 2021) / orientiert an DSM 5
Leichtgradig: wenig oder keine Symptome zusätzlich zu denen, die zur Diagnosestellung erforderlich sind und: geringfügige Beeinträchtigungen in sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsbereichen

Mittelgradig: trotz der geringen Symptomausprägung deutliche funktionelle Beeinträchtigung oder trotz geringfügiger funktioneller Beeinträchtigung deutlich mehr Symptome als zur Diagnoseerstellung erforderlich



Schwergradig: deutlich mehr Symptome als zur Diagnoseerstellung erforderlich bzw. stark ausgeprägt und funktionelle Beeinträchtigung in erheblichem Ausmaß
Tab 106: Therapie von ADHS laut Diagnostische Leitlinie für ADHS / awmf org (Zugriff am 19. Mai 2021)
Behandlung im Rahmen eines multimodalen Gesamtkonzepts Psychoedukation Bei Kindern unter 6: primär psychosozial interveniert werden (einschließl. Psychotherapie)Pharmakotherapie nicht vor dem Alter von drei JahrenBei ADHS mit leichtem Schwergrad: primär psychosozial (einschließl. Psychotherapie, Pharmakotherapie nur in Einzelfällen) Bei moderater ADHS: intensivierte psychosoziale Intervention (einschließl. Psychotherapie) oder eine pharmakologische Behandlung oder eine KombinationBei schwerer ADHS: nach intensiver Psychoedukation primär Pharmakotherapie. Psychosoziale Intervention (einschließl. Psychotherapie) kann bzw. soll integriert werden (wenn ADHS Symptomatik bestehen bleibt). 
Tab 107:Psychosoziale Interventionen laut Diagnostische Leitlinie für ADHS / awmf org (Zugriff am 19. Mai 2021)
Prävention: Beratung über angemessenes Erziehungsverhalten von Eltern & Pädagog*innen (einschließlich Elterntrainings)

Psychosoziale Interventionen:Elterntraining, Elternschulung, Elternberatung (einschließlich Psychoedukation) Erziehertraining (auf verhaltenstherapeutischer Basis) und Erzieherberatung 

ergänzend: Kindzentrierte Interventionen (Trainings)

Gruppentrainings sind besser evaluiert
Tab 108: Empfehlungen zu Alternativen Verfahren laut Diagnostische Leitlinie für ADHS / awmf org (Zugriff am 19. Mai 2021)
Neurofeedback kann bei Kindern ab 6 Jahren ergänzend eingesetzt werden, wenn dadurch nicht eine andere wirkungsvollere Therapie verzögert oder verhindert wird

Wichtig ist ein Training mittels gut untersuchter Protokolle. Prinzipien der Lerntheorie und Transferübungen sollen einbezogen werden. Mindestens 25-30 Sitzungen, danach: prüfen ob Fortsetzung gerechtfertigt ist.
Diätische Interventionen: ausgewogene Ernährung wichtig. Diäten, der Verzicht auf künstliche Farbstoffe sollten nicht als generelle Intervention durchgeführt werden. Bei Hinweisen auf einen Zusammenhang zwischen Nahrungsmitteln und Verhalten sollte die Eltern an einen Ernährungsberater verwiesen werden. Eltern sollen darauf hingewiesen werden, dass keine Befunde zu Langzeiteffekten durch das Weglassen von Nahrungsmitteln vorliegen. Die Leitlinien geben keine Empfehlung zur Gabe von Omega-3 oder Omega-6 Fettsäuren. 
Tab 109: Pharmakologische Interventionen laut Diagnostische Leitlinie für ADHS / awmf org (Zugriff am 19. Mai 2021)
Alter des Patienten, Schwergrad der Symptomatik, Schwere der Beeinträchtigung in verschiedenen Lebensbereichen, sowie die Wirksamkeit eingeleiteter psychosozialer Interventionen (inkl. Psychotherapie) soll bei der Indikationserstellung berücksichtigt werden. 
Initiierung und beaufsichtigte Anwendung einer medikamentösen Behandlung nur durch Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, ärztlichen Psychotherapeuten. Entscheidung nur durch einen Arzt mit besonderen Kenntnissen zu Verhaltensstörungen in dieser Personengruppe. Entscheidung nur nach gesicherter Diagnoseerstellung. Nach medikamentöser Einstellung sind Folgeverordnungen können in Aufnahmefällen auch durch Hausärzte möglich.
Behandlungsoptionen: Stimulanzien je nach Zulassungsstatus: Methylphenidat, Amfetamin und Lisdexamfetamin), Atomoxetin und Guanfacin. Cannabis soll explizit nicht zur Behandlung von ADHS eingesetzt werden. 
Tab 110: Kazda, L. Bell, K. Thomas, R. McGeechan, K., Sims, R, Barratt, A.: Overdiagnosis of Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder in Children and Adolescents: A Systematic Scoping Review.“ Apple Books. „Overdiagnosis of Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder in Children and Adolescents:“Auszug aus: „Overdiagnosis of Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder in Children and Adolescents: A Systematic Scoping Review.“. JAMA Netw Open. 2021 Apr; 4(4): e215335.  Published online 2021 Apr 12. doi: 10.1001/jamanetworkopen.2021.5335PMCID: PMC8042533


Kadzda et al (2021) stellen ein Review vor, das sich mit Problemen bei der Diagnose von ADHS befasst. Sie untersuchen insgesamt 334 Studien, die ihren Auswahlkriterien entsprechen. 

Ergebnisse (Auswahl):

Es gibt Hinweise auf deutliche Prävalenzunterschiede (weniger ADHS Diagnosen bei Mädchen, Afro-Amerikanische und Hispancic Kindern und Jugendlichen, starke regionale Unterschiede, Unterschiede je nach verwendetem Diagnostik-Manual). 

45 Studien berichten von steigenden Zahlen ADHS-Diagnosen, 25 Studien verweisen darauf, dass der Zuwachs vor allem auf leichtere Fälle verweist. 64 Studien berichten von einem wachsenden Anteil von Kindern und Jugendlichen, die pharmakologisch behandelt werden.

Sie ermitteln 31 Studien, die darauf hinweisen, dass die Schäden einer ADHS Diagnose den möglichen Nutzen überwiegen sowie 121 Studien, die darauf hinweisen, dass die Schäden der ADHS-Therapie den Nutzen der Behandlung überwiegen.

Zehnte Sitzung

Die zehnte Sitzung stellt das Störungsbild Autismus vor. Autismus ist zwar vergleichsweise selten. Aber es ist durchaus möglich, dass Studierende der Sozialen Arbeit im Verlaufe ihres Berufslebens mit Menschen zu tun haben, bei denen eine Autismus-Spektrum-Störung diagnostiziert wurde. Seriöse Information ist bei Autismus besonders wichtig. Denn es gibt eine Vielzahl von unseriösen Anbietern auf dem Therapiemarkt. Sie können also viel Gutes tun, wenn Sie in der Elternarbeit angemessen informieren.

Autismus

Diagnose frühkindlicher Autismus (ICD 10) nach Poustka, F. u.a.: Autistische Störungen. Göttingen 2004, 10 f
A Vor dem 3. Lebensjahr entwickelt sich eine auffällige und beeinträchtigte Entwicklung in mindestens einem der folgenden Bereiche
1. Rezeptive oder expressive Sprache, wie sie in der Kommunikation verwandt wird.
2. Entwicklung sozialer Zuwendung oder reziproker sozialer Interaktion
3. Funktionales oder symbolisches Spielen
B Insgesamt müssen mindestens sechs Symptome von 1., 2. und 3. vorliegen
a. Qualitative Auffälligkeiten der gegenseitigen sozialen Interaktion in mindestens drei der folgenden Bereiche.
Unfähigkeit Blickkontakt, Mimik, Körperhaltung und Gestik zur Regulation sozialer Interaktionen verwenden
b. Unfähigkeit, Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzunehmen, mit gemeinsamen Interessen, Aktivitäten und Gefühlen (in einer für das Alter angemessenen Art und Weise trotz hinreichender Möglichkeiten)
c. Mangel an sozio-emoitionaler Gegenseitigkeit, die sich in einer Beeinträchtigung oder devianten Reaktion auf die Emotionen anderer äußert, oder Mangel an Verhaltensmodulation entsprechend dem sozialen Kontext oder nur labile Integration sozialen, emotionalen und kommunikativen Verhaltensd. Mangel, spontan Freude, Interessen oder Tätigkeiten mit anderen zu teilen ( z. B. Mangel, anderen Menschen Dinge, die für die Betroffenen von Bedeutung sind, zu zeigen, zu bringen oder zu erklären)
2. Qualitative Auffälligkeiten der Kommunikation in mindestens einem der folgenden Bereiche:
a. Verspätung oder ständige Störung der Sprache, die nicht begleitet ist durch einen Kompensationsversuch durch Gestik oder Mimik als Alternative zur Kommunikation (vorausgehend oft fehlendes kommunikatives Geplapper
b. Relative Unfähigkeit, Kontakt zu beginnen oder aufrecht zu erhalten (auf dem jeweiligen Sprachniveau), bei dem es einen gegenseitigen Kommunikationsaustausch mit anderen Personen gibt.
c. Stereotype und repetive Verwendung der Sprache oder idiosynkratischer Gebrauch von Worten oder Phrasend. Mangel an verschiedenen spontanen Als-ob-Spielen oder (bei jüngeren Betroffenen) sozialen Imitationsspielen
3. Begrenzte, repetive und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten in mindestens einem der folgenden Bereiche
a.Umfassende Beschäftigung mit gewöhnlich mehreren stereotypen und begrenzten Interessen, die in Inhalt und Schwerpunkt abnorm sind, es kann sich aber auch um ein oder mehrere Interessen in ungewöhnlicher Intensität und Begrenztheit handeln
b. Offensichtlich zwanghafte Anhänglichkeit an spezifische, nicht-funktionale Handlungen oder Rituale
c. Stereotype und repetitive motorische Manierismen mit Hand- oder Fingermanierismen oder Verbiegen oder komplexe Bewegungen des ganzen Körpers
d. Vorherrschende Beschäftigung mit Teilobjekten oder nicht funktionalen Elementen des Spielmaterials (z. B. ihr Geruch, die Oberflächenbeschaffenheit oder das von ihr hervorgebrachte Geräusch oder ihre Vibration
Diagnose Asperger-Syndrom (nach den Forschungskriterien der ICD-10/F84.5) nach Poustka, F. u.a.: Autistische Störungen. Göttingen 04, 14
A. Es fehlt eine klinisch eindeutige Verzögerung der gesprochenen oder rezeptiven Sprache oder der kognitiven Entwicklung
Die Diagnose verlangt, dass einzelne Worte bereits im 2. Lebensjahr oder früher benutzt werden. Selbsthilfefertigkeiten, adaptives Verhalten und die Neugier am der Umgebung sollten während der ersten drei Lebensjahre einer normalen intellektuellen Entwicklung entsprechen. Allerdings können Meilensteine der motorischen Entwicklung etwas verspätet auftreten, und eine motorische Ungeschicklichkeit ist ein häufiges (aber kein notwendiges) diagnostisches Merkmal. Isolierte Spezialfertigkeiten, oft verbunden mit einer auffälligen Beschäftigung, sind häufig, aber nicht für die Diagnose erforderlich. 
B. Qualitative Beeinträchtigung der gegenseitigen sozialen Interaktion 
Entsprechend des Kriterien des Autismus
C. Ein ungewöhnliches, intensives, umschriebenes Interesse oder begrenztes, repetive und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten
Entspricht dem Kriterium für Autismus, hier sind aber motorische Manierismen, ein besonderes Beschäftigtsein mit Teilobjekten oder mit nicht-funktionalen Elementen von Spielmaterial ungewöhnlich
D. Das Bild kann nicht einer anderen Störung zugeordnet werden
Häufigkeit Autismus nach Chakrabarti, S./Frombone, E.: Pervasive developmental disorders in preschool children (N=15500 Vorschulkinder in Südengland). The Journal of the American Medical Association 285 (2001), 3093-3099 (zitiert nach Poustka, F. u.a.: Autistische Störungen. Göttingen 04, 18)
frühkindlicher Autismus: 16.8 / 10 000
Asperger-Syndrom: 8.4 / 10 000
Hinweise auf biologische Ursachen nach Poustka, F. u.a.: Autistische Störungen. Göttingen 04, 22
hohe Verhaltenskonkordanz bei eineiigen im Vergleich zu zweieiiigen Zwillingen
Erkrankungsrisisko bei Geschwistern etwa 50fach erhöht
Häufung milder kognitiver und pychischer Probleme in Familien mit Autismusbelastung
früher Beginn der Störung
hohe Komorbidität mit Geistiger Behinderung
hohe Rate neurologischer Auffälligkeiten
neuropsychologische Funktionsstörungen
Assoziation mit genetischen Erkrankungen
keine kausale Beziehungen zum Erziehungsverhalten oder zum sozioökonomischen Status der Eltern
Deprivation erzeugt von Autismus unterschiedliche Problematik
Therapie von Autismus nach Poustka, F. u.a.: Autistische Störungen. Göttingen 04, 36 f
Empirisch gut abgesicherte Methoden: frühe intensive globale Verhaltenstherapie (z.B. nach LOVAAS)
Verhaltensmodifikation einzelner Symptome mit VTTreatment and Education of Autistic and Related Communication Handicapped Children (TEACCH)
Empirisch moderat abgesicherte Methoden
Training sozialer Fertigkeiten
Theory of mind training (Theory of mind umfasst alle Kognitionen, die es ermöglichen, eigenes Verhalten und Erleben zu erkennen, zu verstehen, vorherzusagen und zu kommunizieren, entwickelt durch Premack/Wodruff 1978)
Picture Exchange Communication System (PECS) 
Schwache Evidenz
Massage Therapie
Überwiegend negativ evaluierte Methoden
gestützte Kommunikation
sensorische Integration
Maßnahmen ohne empirische Absicherung
Logopädie
Physiotherapie
Ergotherapie
Floor-Time
Umstrittene oder zweifelhafte Methoden
Festhaltetherapie
Reittherapie/Dephintherapie
Daily-Life-Therapie
Klangtherapie
Kraniale Osteropathie
Spezialbrillen

Karla Kolumna:

Empfehlung an die Mutter:

  • Gesunde und ausgewogene Ernährung, abraten des Weglassens von Phosphor
  • Hinweisen, dass keine Befunde zu Langzeiteffekten des Phosphorverzichts vorliegen (ggf. Ernährungsberatung)
  • Sich Informationen über die multimordale Behandlung holen, ggf. bei Unsicherheit Zweitmeinung einholen, sich jedoch dafür aussprechen
  • An den Eltern- und Jungengruppen der Kinder- und Jugendtherapeutin teilnehmen
  • Auf den möglichen Schaden einer Diagnose über den Nutzen dessen Hinweisen

Diagnostizieren, etikettieren, stigmatisieren (zehnte Sitzung) 13.06.2022

Die gestützte Kommunikation ist eine sehr umstrittene Methode, nonverbale Personen mit Autismus bei der Kommunikation zu helfen. Gegner_innen dieser Methode bemängeln die Manipulationsmöglichkeiten Seitens der unterstützenden Person, Befürworter_innen weisen jedoch vor allem auf das Recht zur Hilfestellung der Kommunikation hin. Basierend auf verschieden Publikationen – die auf der Internetseite Pubmed veröffentlicht sind – bin ich zu dem Entschluss gekommen, dass ((un)bewusste) Einflussnahmen auf die Kommunikation nonverbaler Personen zwar möglich sind, aber der Wert der Hilfestellung und die Wahrscheinlichkeit des Erlernens von lesen und schreiben diese Gefahr übertrifft. Deswegen würde ich die Methode der unterstützten Kommunikation zum Lesen und Schreiben lernen befürworten, dabei sollte aber auf die eventuelle Einflussgefahr hingewiesen werden. 

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