Je mehr Migranten desto mehr Förderschüler

Grundgedanke dieses Blockseminars war es, sich einen exemplarischen Überblick über einen möglichst klar definierten Bereich der Inklusionsforschung zu verschaffen.

1.  Rechercheschwerpunkt dieses Seminars

Die Teilnehmer/innen haben sich am ersten Tag dieses Seminars entschieden, die Situation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationsgeschichte in deutschen Förderschulen zu untersuchen.

Eine Datenbankrecherche in der Fatenbank FIS Bildung ermittelt zunächst 215 Treffer (Volltext: Migra*, Schlagwort Förderschule), davon 110 Online-Treffer. Als frei verfügbarte Treffer wurde zunächst die Publikation von Kemper verwendet (Treffer 14). Treffer 52 (Dietze) analysiert die Schulstatistik im Jahr 2011 (Treffer 52). U.a. berechnet er orientiert an Kornmann den Relative Risikoindex (Anteil nicht-deutscher Förderschüler/innen dividiert durch Anteil deutscher Förderschüler/innen; Werte über 1 bedeuten eine Überrepräsentation) für alle Landkreise Deutschlands. Sichtbar werden erhebliche Unterschiede je nach Region.

Diese Strategie sollte anhand von  aktuellen Daten für NRW angewendet werden.  Entsprechend wurde nach möglichst aktuellen Datenquellen, gesucht, die Förderschulquoten in Kreisen nach Staatsbürgerschaft, Erstsprache oder Migrationsgeschichte nach Kreisen NRWs bereit stellen. Bedeutsam waren dabei Quellen, die errechnen lassen, welche Anteile aller Schüler/innen von Klasse 1 – 10 eine Förderschule besuchen und nicht Angaben darüber welche Anteile aller Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der Förderschule unterrichtet werden. Nach längerer Recherche fiel die Wahl auf zwei Broschüren des Schulministeriums: Das Schulwesen NRW aus qantitativer Sicht 2018/19 und Sonderpädagogische Förderung in NRW 2018/2019.  

Diese beiden Broschüren enthalten zwar nicht die gesuchten Daten, aber immerhin Angaben über die Anteile der nicht-deutschen Schüler pro Kreis und Angaben über die Zahlen der Förderschüler und die Zahlen aller Schüler pro Kreis. Hieraus lassen sich Prozentwerte errechnen. Und die Prozentwerte kann man korrelieren. 

Um diese Aufgabe umzusetzen, arbeiten die Teilnehmer/innen des Seminars mit dem Statistikprogramm pspp, das eine kostenfreie Alternative zum weit verbreiteten Statistikprogramm SPSS. 


2. Ergebnisbericht: 
Förderschulen als Schulen für Migranten-Kinder?

Bericht von Prof. Dr. Johannes Mand und den Teilnehmer/innen des EvH-Bochum-Seminars Forschen über Inklusion im Sommersemester 2020 – Entstehungsdatum: 6.6.2020

Inklusion heißt im Grundsatz eigentlich, dass Regelschulen so umgestaltet werden sollen, dass sie Schulen für alle Kinder werden. Behinderte Kinder sollen also nicht mehr in Förderschulen unterrichtet werden, sondern gemeinsam mit ihren nicht behinderten Altersgenossen die Schule besuchen. Nun könnte man angesichts der Berichterstattung in den Medien denken, dass die Zahl der Förderschüler durch die umfangreichen Inklusionsmaßnahmen rapide abnimmt und zahlreiche Förderschulen vor der Schließung stehen. Dies stimmt aber so sicher nicht. Denn immer mehr Kinder werden als behindert eingestuft und zwar ziemlich genau in dem Umfang, der dafür sorgt, dass die wachsende Schar der Inklusionskinder nicht zulasten der Förderschulen geht. Hierbei handelt es sich weniger um „klassische“ Behinderungen wie Körperbehinderungen oder Geistige Behinderungen. Sondern es handelt sich um Kinder, die ein Schulleistungsproblem haben, also sich z. B.  mit dem Lesen, Schreiben und Rechnen schwer tun. Oder es handelt sich um Kinder, die Verhaltensprobleme haben. 

Ein kleines Rechercheprojekt an der EvH Bochum hat sich nun mit einer besonderen Problemgruppe der Förderschulen befasst: Kindern mit Migrationshintergrund. Wer sich mit den Schulleistungen dieser Gruppe befasst, denkt häufig an schwache Leistungen und auch Verhaltensprobleme passen gut in dieses Bild. Dabei wird allerdings gerne übersehen, dass keineswegs alle Kinder mit Migrationsgeschichte ein Problem mit der Schule haben. Der Anteil der Problemschüler aus Migrantenfamilien ist einfach nur etwas größer als der Anteil der Problemschüler aus Familien ohne Migrationshintergrund. Und man kann diese Zahlen eigentlich auch gut erklären. Denn Kinder mit Migrationsgeschichte haben häufig eine nicht-deutsche Erstsprache. Bilingualität ist sicher keine Behinderung, sondern eine Stärke, die eigentlich besonders gefördert und gehgt werden sollte. Dies haben die Vernatwortlichen wohl noch nicht richtig erkannt. Denn das deutsche Schulsystem kann wohl nicht besonders gut mit bilingualen Kindern umgehen. Und wenn es dann in Kitas und Schulen nicht gelingt, gute deutsche Sprachkenntnisse aufzubauen, dann können Schulleistungsprobleme bei bilingualen Kindern entstehen. Und da gibt es noch ein zweites Problem: Viele Kinder mit Migrationsgeschichte wachsen auch in Armut auf. Und eine Folge von Armut sind Verhaltensweisen, die manche Lehrer/innen als Ausdruck von Verhaltensstörungen wahrnehmen. 

Im Rahmen eines Blockseminars – zumal unter Corona-Bedingungen – stehen nur überschaubare Optionen zur Verfügung, sich einen Überblick über die Verhältnisse in Förderschulen zu verschaffen. Die Studierenden haben deshalb entschieden, die von der Schulverwaltung zur Verfügung gestellten Zahlen einer genaueren Analyse zu unterziehen, um festzustellen, ob Kinder mit Migrationsgeschichte in Förderschulen NRWs überrepräsentiert sind. 

Bei der Recherche gibt es einige Hindernisse. Die Teilnehmer/innen des Seminars haben z. B. keine einigermaßen aktuelle Quellen gefunden, mit denen man in NRW auf Schulamtsebene Migrantenanteile in allen Schulen (liegt vor) mit Migrantenanteilen in Förderschulen vergleichen kann (liegt nicht vor). Die Strategie von Dietze (2011), der den von Kornmann vorgeschlagenen Relativen Risikoindex bundesweit  auf Kreisebene errechnet (Anteil nicht deutscher Förderschülerinnen dividiert durch den Anteil deutscher Förderschülerinnen), kann man also hier nicht einsetzen.

Auch  die Qualität der Förderschulzahlen und Inklusionszahlen lässt deutlich zu wünschen übrig. Es wäre z. B. interessant gewesen, zu untersuchen, ob die Verhältnisse in der Förderschule Lernen (Förderschulen für schulleistungsschwache Kinder) anders ausfallen als in den Em/soz Förderschulen (also: Förderschulen für verhaltensgestörte Kinder). Auch die Mehrfachdiagnosen sind nicht unbedingt hilfreich, wenn es darum geht, ein aussagefähiges Bild zu entwickeln.

Das Seminar hat deshalb entschieden, in einer Korrelationsanalyse festzustellen, ob es Hinweise darauf gibt, dass Kinder mit Migrationsgeschichte häufiger in Förderschulen NRWs zu finden sind als man von ihrem Bevölkerungsanteil vermuten müsste. Die Recherche basiert auf den Daten aus zwei Broschüren des Schulministeriums: „Sonderpädagogische Förderung in NRW“ und „Das Schulwesen NRW aus quantitativer Sicht“ jeweils für das Schuljahr 2018/2019. Dabei liegt – vor allem aus Zeitgründen ein Fokus auf den kreisfreien Städten NRWs. Errechnet werden für jede der 23 kreisfreien Städte die prozentualen Anteile von Migranten in den Klassen 1-10 und die prozentualen Anteile von Förderschülern. Diese beiden Prozentwerte werden korreliert.

Die Studie bezieht sich damit auf eine vergleichsweise große Schülergruppe.  Als Kriterium wird die Staatsbürgerschaft verwendet und nicht etwa die ebenfalls in den Broschüren bereit gestellte Migrationshintergrund-Variable. Dieses Vorgehen basiert auf den Befunden von Kempe 2017, der feststellt, dass die Verwendung des Kriteriums Migrationshintergrund zu deutlich anderen Befunden führt. Hinzu kommt, dass verwandtschaftliche Beziehungen zu nicht in Deutschland geborenen Eltern, manchmal sogar Großeltern in kreisfreien Städten NRWs so weit verbreitet sind, dass kaum noch präzise Aussagen möglich sind. Vor dem Hintergrund der Befunde der Forschung zu Schulleistungen von Kindern mit Migrationsgeschichte wäre wünschenswert, wenn nicht allein mitgeteilt wird, ob Migrationshintergrund vorliegt oder nicht bzw. ob eine nicht-deutsche Staatsbürgerschaft vorliegt. Sondern hilfreich wären Angaben zur Mehrsprachigkeit und zwar umgenau zu sein, wünschenswert wären Angaben dazu, welche erste Sprache das Kind hat. Zusätzliche Informationen über die erste Sprache der Mutter wären noch besser.

Was sind die Ergebnisse des Seminars? Zunächst lässt sich festhalten: In kreisfreien Städten NRWs korrelieren im Schuljahr 2018/2019 Förderschulquoten und Anteile von Kindern nicht deutscher Staatsbürgerschaft (Abbildung 1). Es handelt sich dabei um einen positiven moderaten Zusammenhang (r = 0,39). Man kann also formulieren: Je höher der Anteil der Schüler einer kreisfreien Stadt ohne deutsche Staatsbürgerschaft, desto höher die Förderschulquoten-

Korrelationen zwischen Ausländerquote und Förderschulquote NRW

Abbildung 1

Nun sind Korrelationen kein Nachweis von Überrepräsentation und auch kein Nachweis von kausalen Beziehungen. Denn derlei Zusammenhänge könnten z. B. auch dadurch zustande kommen, dass Lehrer/innen in Städten mit vielen Migranten vermehrt Kinder ohne Migrationsgeschichte auf die Förderschulen schicken. Das ist zwar nicht sehr wahrscheinlich, aber dennoch möglich. Denkbar sind auch indirekte Korrelationen. Hohe Migrantenanteile bei den Schüler/innen könnten z. B. als Armutsindikatoren von Städten angesehen werden. Das eigentliche Problem wären in diesem Fall die vielen Kinder aus armen Familien und nicht die vielen Kinder aus Familien mit Migrationsgeschichte. Vor dem Hintergrund der bisherigen Forschung über den Einfluss von Migration und Armut auf Schulleistungen ist es sicher angemessen, von einem multikausalen Geschehen auszugehen. Und in diesem Geschehen spielen neben Armuts- und Migrationsvariablen auch Faktoren wie der Einsatz unfairer Testverfahren und institutionelle Bedürfnisse der Förderschulen eine Rolle. Anders formuliert: Kinder geraten nicht allein aus dem Grund in die Förderschule, weil sie Migrationsgeschichte haben. Sondern da gibt es ein Bündel von Faktoren.  Ja, man kann argumentieren: Förderschulen waren schon immer Schulen für Randgruppenkinder.  Waren es früher die Kinder der Armen, so sind es heute eben auch Kinder aus Familien mit Migrationsgeschichte. Aber dass Inklusion immer mehr  zu einer Veranstaltung vor allem für nur leicht beeinträchtigte Kinder der Mittelschicht wird, während die Problemkinder der Armen und der Migranten vornehmlich in Förderschulen abgeschoben werden, ist sicher nicht besonders inklusiv.

Das Rechercheprojekt ermittelt damit in dem eher begrenzten Zeitrahmen eines Blockseminars durchaus beachtliche Resultate. Förderschulen sind in NRW (auch) im Schuljahr 2018/2019 möglicherweise in beachtlichem Umfang Schulen für Kinder aus Migrantenfamilien. Verbindliche Angaben sind aufgrund der nur unvollständig zur Verfügung gestellten Daten allerdings derzeit nicht möglich. Wünschenswert wären detaillierte Angaben des Schulministeriums zur Erstsprache der Kinder und zwar sowohl für Förderschulen wie für Regelschulen. Und wünschenswert wären Studien, die multivariate Verfahren einsetzen, um die multikausalen Zusammenhänge in diesem Forschungsfeld angemessen zu untersuchen.